Wie der Tag zur Nacht wurde - das Schicksal der Wandertaube (Ectopistes migratorius).

Vogelschießen in Louisina in den 1870er Jahren. (http://www.taz.de/!5034253/ (Bild: akg/North Wind Picture Archives))
Vogelschießen in Louisina in den 1870er Jahren. (http://www.taz.de/!5034253/ (Bild: akg/North Wind Picture Archives))

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Im Herbst 1813 verließ ich mein Haus in Henderson an den Ufern des Ohio und machte mich auf nach Louisville. Als ich ein paar Meilen hinter Hardensburgh das Ödland durchquerte, konnte ich verfolgen, wie die Tauben in Massen, die ich so noch nie zuvor gesehen hatte, von Nordosten nach Südwesten flogen. Der Himmel war buchstäblich voller Tauben. Das Mittagslicht verdunkelte sich wie bei einer Finsternis und Kot tropfte wie schmelzende Schneeflocken herab. Das unaufhörliche Surren der Flügel wirkte auf meine Sinne regelrecht einschläfernd. Der Kot, der den Rastplatz in seiner gesamten Ausdehnung bedeckte, war schon auf einige Zoll (Anm.: 4 Zoll sind ungefähr 10 Zentimeter) angewachsen. Ich sah, wie zahlreiche Bäume von zwei Fuß (60 cm) Durchmesser knapp über dem Erdboden wegbrachen, sah, wie die Zweige vieler der mächtigsten und größten Bäume nachgegeben hatten, als sei ein Tornado durch den Wald gefegt. Alles wies darauf hin, dass die Zahl der Vögel in diesem Teil des Waldes jegliche Vorstellungskraft weit überstieg. […] Noch vor Sonnenuntergang erreichte ich Louisville, 55 Meilen von Hardensburgh entfernt. Die Tauben zogen immer noch in unverminderter Zahl – und das dauerte noch drei weitere Tage an.“

 

Dieser Bericht stammt vom amerikanischen Ornithologen und Naturmaler John James Audubon und spielt im Jahre 1813. Doch dieser aus geschätzt einer Milliarde (1.000.000.000) Tauben könnte 1866 im südlichen Ontario gesichtet worden sein – hier wird eine Zahl von 3,5 Milliarden Tauben geschätzt. Damit erreichte die Wandertaube Individuenzahlen wie sie vermutlich kein anderes Wirbeltier erreichte, ihr Bestand erreichte im Maximum bis zu 5 Milliarden Individuen und die Taube machte rund 25 - 40% der gesamten Vogelbevölkerung der USA aus.

Die letzte Wandertaube. (https://en.wikipedia.org/wiki/File:Martha_last_passenger_pigeon_1914.jpg)
Die letzte Wandertaube. (https://en.wikipedia.org/wiki/File:Martha_last_passenger_pigeon_1914.jpg)

Am 1. September 1914, 48 Jahre nachdem der riesige Schwarm im südlichen Ontario gesichtet wurde, starb die Wandertaube Martha (benannt nach First Lady Martha Washington) im Zoo von Cincinnati. Martha wurde etwa im Jahr 1885 geboren und erreichte damit ein stolzes Alter von fast 30 Jahren. Auch heute noch ist sie der Welt ausgestopft erhalten geblieben. Als sie 1907 zusammen mit zwei männlichen Individuen in den Zoo kam, und erst recht als diese beiden männlichen Individuen 1909 und 1910 starben, wurde Martha zu einer Berühmtheit. Denn sie hatte den Status als ein sogenannter „Endling“, d.h. sie war das mutmaßlich letzte Individuum ihrer Art. Andere Beispiele für Endlinge waren der Beutelwolf Benjamin (gestorben 1936), die Galapagos-Riesenschildkröte Lonesome George (gestorben 2012) oder der Laubfrosch Toughie, der stand heute (Mai 2016) noch am Leben ist, angesichts seines Status aber definitiv nicht mehr für die Erhaltung seiner Art sorgen kann. Wie konnte es aber dazu kommen, dass diese einstmals individuenreichste Spezies innerhalb von nur 50 Jahren ausstarb?

Martha im Jahr 2015. (https://en.wikipedia.org/wiki/File:Martha,_the_last_Passenger_Pigeon._Natural_History_Museum,_June,_2015._Digital_photo,_cropped_and_brightened.jpg)
Martha im Jahr 2015. (https://en.wikipedia.org/wiki/File:Martha,_the_last_Passenger_Pigeon._Natural_History_Museum,_June,_2015._Digital_photo,_cropped_and_brightened.jpg)

Die Art der Wandertaube war vermutlich eine sehr wechselhafte Spezies. Ähnlich wie andere Lebewesen wie Hasen oder Lemminge schwankten auch die Bestände der Wandertaube vermutlich extrem stark. Erreichte der Bestand zu manchen Zeiten mehrere Milliarden, so schrumpfte er zeitweise auf bis zu 50.000 Individuen, wobei er im Durchschnitt rund 350.000 betrug. Dies lässt sich übrigens aus Genomanalysen schließen – obwohl diese einen guten Einblick in die Geschichte einer Art geben, so könnte es aber auch anders gewesen sein. Aber es sind die genauesten Analysen, die wir im Moment zur Verfügung haben. Wie kam es nun zu solchen enormen Schwankungen?

 

Hauptgrund hierfür ist sicherlich das Nahrungsangebot: während der Eiszeiten schrumpften die Wälder, die Nahrungsquellen der Tauben und damit auch der Bestand. Als das Klima für die Wälder etwa 4000 v.Chr. besser war, war auch der Bestand an Wandertauben jenseits der Milliardengrenze. Als aber im 15. und 16. Jahrhundert die Europäer die Neue Welt eroberten – explodierte der Wandertaubenbestand schließlich fatales letztes Mal. Da die Europäer die Ureinwohner, die einerseits mit den Wandertauben um Nahrung (z.B. Samen) konkurrierten und andererseits die Tauben jagten, immer weiter zurückdrängten, vermehrten sich die Tauben immer weiter.

Wandertaube im Jugendkleid. (https://de.wikipedia.org/wiki/Wandertaube#/media/File:Ectopistes_migratoriusAAP042CA.jpg)
Wandertaube im Jugendkleid. (https://de.wikipedia.org/wiki/Wandertaube#/media/File:Ectopistes_migratoriusAAP042CA.jpg)

Um eine solch gigantische Menge an Tauben aber zu ernähren, bedurfte es enormer Mengen an Nahrung, welche aber nur in wenigen Jahren vorhanden war. Diese „Mastjahre“ kennt man aus dem eigenen Garten, wenn man seine Obstbäume nicht pflegt – hier spricht man dann von Alternanz, d.h. in einem Jahr ist der Ertrag enorm und die Früchte eher klein, während im folgenden Jahr sich nur sehr wenige Früchte entwickeln. Wenn 2 Milliarden Tiere täglich je 35 g Futter benötigen, so ergibt sich die unglaubliche Menge von 70.000 Tonnen Nahrung täglich. 2014/15 wurden in Deutschland insgesamt rund 26,5 Millionen Tonnen Weizen geerntet, was ziemlich genau der jährlich für diesen Schwarm benötigten Menge Nahrung entspricht.

 

Ein weiteres Problem aber war, dass diese Mengen an Nahrung auch wieder ausgeschieden wurden und damit die Wälder überdüngt wurden oder sogar Bäume unter dem Gewicht des Kotes zusammenbrachen. Mit dem Sterben der Wälder brachen dann auch die Bestände der Wandertaube zusammen. Im 19. Jahrhundert rodeten die Siedler zusätzlich die Laubwälder im Nordosten der USA, sodass ein Flickenteppich aus kleineren Waldinseln, Ackerland, Weiden und Ansiedlungen entstand. Als dann durch die zunehmende Infrastruktur eine industrielle Verwertung der Tauben möglich wurde, begann die Jagd der Siedler auf die Tauben. 1878 soll ein einzelner Jäger alleine drei Millionen Vögel erlegt haben – deren Fleisch wurde anschließend per Eisenbahn in die Ballungszentren an der Küste transportiert. Immer neue Methoden, um die Vögel möglichst schnell in großen Massen zu erlegen, zu erfunden und nicht nur Alttiere, sondern auch die Nachzucht und Brutbäume wurden zerstört. Auf diese Art und Weise wurden ganze Kolonien vernichtet und der ganze Bestand brach zusammen.

 

Trotz etlicher Gesetze zum Schutz der Tiere änderte sich wenig bis gar nichts, da diese nicht umgesetzt und verfolgt wurden. So wurde eine Vorlage zum Schutz der Tiere 1857 in Ohio vom Senat mit folgender Begründung abgelehnt:

„Die Wandertaube benötigt keinen Schutz. Sie ist auf wunderbare Weise überaus fruchtbar, nistet in den unermesslich weiten Wäldern des Nordens, wandert Hunderte Meilen auf der Suche nach Nahrung, ist heute hier und morgen dort, und kein denkbarer Eingriff kann ihren Bestand verringern oder überhaupt nur bemerkt werden angesichts der Myriaden, die jährlich nachkommen.“

Als um 1890 dann endlich ein größerer Sinneswandel eintrat und die Schutzbemühungen intensiviert wurden, war die Art bereits so gut wie ausgestorben und mit den wenigen vorhandenen Tieren nicht mehr zu retten. Da die Wandertaub in großen Kolonien brütet und eine gewisse Zahl von Individuen benötigt, um sich überhaupt fortzupflanzen, gelang es nicht, die Tiere in Gefangenschaft zu vermehren. Im März 1900 schließlich tötete ein Junge aus Ohio mit einem Luftgewehr das letzte bekannte und offiziell bestätigte Wildtier der Wandertaube und 1914 mit Martha das letzte bekannte Individuum der Art Ectopistes migratorius.

 

Warum diese Episode über die Wandertaube auch für uns Rassgeflügel- und Hobbygeflügelhalter interessant ist, darüber gibt es dann nächste Woche mehr zu erfahren.

 

Vorschau A5 - KW25/2016: Wie der Geflügelzüchter einen Beitrag zum Artenschutz leistet.